Einseitig Stricken

Es geht darum, einseitige Flächen an einem Stück zu stricken.

Die Theorie der einseitigen Flächen ist allen, die sich mit höherer Mathematik beschäftigen, eingehend bekannt. Dieses Projekt hat sich jedoch dem neuartigen und kreativen Ansatz verschrieben, einseitige Flächen zu stricken. Dass dies nicht ganz trivial ist, erschließt sich Mathematikerinnen mit Strickkenntnissen, da es kein globales stetiges Normalenfeld auf einseitigen Flächen gibt. Und schließlich definieren die Maschen einer zusammenhängenden nahtlosen Strickarbeit ein solches.

Heptaeder

gestricktes Moebiusband

Das Möbiusband

Es ist schon lange lange her - es war wohl das Jahr 1995 oder 1996, da setzte ich mich in mein Büro an der Universität und begann - zur Irritation der damals ansässigen emmanzipierten Frauengruppe - zu stricken. Mir kam nämlich der Gedanke, dass ein Möbiusband (eine recht einfache einseitige Fläche) aus einem zweiseitigen doppelt verdrehten Band zusammengesetzt werden kann - und ein zweiseitiges Band lässt sich ja an einem Stück nahtlos stricken - so die Theorie. Das wollte ich dann mal praktisch durchführen. Als dann (die weniger emmanzipierten) Frauen merkten, dass ich mit einer Rundstricknadel zweimal verdreht stricke, dachten alle, das sei der - ziemlich übliche - Anfängerinnenfehler. Klar taugte das Stück nicht für den gängigen Pullover. Egal, schon der Versuch, ein zweifach verdrehtes Band zu stricken, war es wert. Nach einiger Zeit hatte das Band eine Breite von fünf Zentimetern, wenn ich es also schaffte, das Möbiusband zusammenzusetzen, dann sind es zehn Zentimeter in der Breite. Das sollte ganz passabel aussehen.

Das erste gestrickte Möbiusband musste ich ganz schön zusammenfriemeln. Es war ja von außen nach innen gestrickt, und um die entsprechenden Ränder in der Mitte zusammenzukriegen, musste ich die Strickrichtung der einen Hälfte kurz vor dem Abketten umdrehen. Nach einiger Zeit gab ich aber das Abketten auf. Statt dessen fädelte ich nur einen Faden durch die letzten Maschen, eine Masche von hüben, eine von drüben, etc. - und das Endergebnis ließ sich tatsächlich sehen.

Erstes gestricktes Moebiusband

Das erste gestrickte Möbiusband war dann für viele die Sensation schlechthin.

Es blieb aber nicht bei diesem ersten Prototyp. Einige Jahre später (1999/2000) strickte ich für zwei Kommilitonninen/Kolleginnen weitere Möbiusbänder. Diese Bänder waren nicht mehr von außen nach innen, sondern von innen nach außen gestrickt, was die Sache wesentlich vereinfacht hat. Ein Foto einer solchen Strickaktion ist auf der Eingangsseite von einseitig Stricken zu sehen.


Kreuzhaube

Jahre gingen ins Land - in der Zwischenzeit hatte sich das gestrickte Möbiusband in diversen Strickzirkeln rumgesprochen - da wurmte es mich, dass zwar hin und wieder Möbiusbänder gestrickt wurden, aber niemand mehr was von der mathematischen Raffinesse, die eigentlich dahintersteckt, wissen wollte.

Also versuchte ich mich an der nächsten einseitigen Fläche: der projektiven Ebene. Es gibt mehrere Realisierungen dieser Fläche im dreidimensionalen Raum, z.B. die sogenannte Kreuzhabe oder die Steinersche (römische) Fläche. Mittlerweile war ich berufstätig und hatte alles andere nötig, als in meiner freien Zeit meine Augen beim Handarbeiten offenzuhalten. Aber im Jahr 2007 an einem schönen Urlaubstag in München, den ich mit meinen Eltern verbrachte, gab ich mir einen Ruck und versorgte mich mit Stricknadelspielen und Rundstricknadeln. Abends im Hotelzimmer war es dann soweit: ich begann mit der Kreuzhaube. Aus dem Gedächtnis wusste ich noch, wie diese aussah, und mir fiel wieder etwas Neues ein: nicht rund stricken, sondern in einer Acht.

Erst einmal fing ich mit einem runden Topflappen an. Nach einigen Runden begann ich dann mit der Acht. Das heißt, es wird die Runde nicht mehr nur in einer Richtung gestrickt, sondern nach der Hälfte der Runde wechselt die Nadel auf die gegenüberliegende Seite und strickt in der anderen Richtung die zweite Hälfte der Runde ab, um anschließend wieder die Seite zu wechseln, etc... und das geht die ganze Zeit so weiter, bis wieder ca. fünf Zentimeter Höhe erreicht werden. Dabei wird in der Mitte der Acht die vorhergehende Runde überstrickt. Nach den fünf Zentimetern wird die Strickrunde in zwei Runden - die rechte und die linke Hälfte der Acht - geteilt, die dann getrennt weitergestrickt werden. Man erhält dann zwei Kappen, und das Abketten ist diesmal kein Problem.

geschlossene Kreuzhaube

Das Ergebnis ließ sich nicht sehen. Die erste gestrickte projektive Ebene riss niemanden vom Hocker oder lockte irgendwen hinterm Ofen hervor. Heraus kam etwas, das wie ein Herzchen aussah und eher das emotionale Gemüt ansprach als den neugierigen Geist. Und Herzchen gibt es ja schon in Hülle und Fülle. Dafür ist das "in einer Acht stricken" und "Runden aufteilen" einfach zu kompliziert. Trotzdem gibt es von dieser Strickaktion noch ein Foto, das die Technik demonstriert.

unfertige Kreuzhaube

offene Kreuzhaube

Steinersche Fläche

Aber es gibt ja noch die Steinersche Fläche, die ja schon aufgrund ihrer Symmetrie imposant ausschaut - und davon gibt es, laut Hilbert und Cohn-Vossen (Anschauliche Geometrie - manchmal sind die alten Bücher echt was wert!) eine Triangulierung, Heptaeder genannt, bei deren Anblick ich gleich die nächste neue Stricktechnik vor Augen hatte: das Stricken von sich durchdringenden Ebenen.

Diesmal dauerte es nicht wieder so lange, bis ich mit dem Stricken anfing. Ich hatte auch keinen Urlaub, sondern fing nach der Arbeit an einem wohlverdienten Feierabend im Jahr 2011 mit dem Heptaeder an. Ich versuchte mich am ersten Tag mit drei Stricknadelspielen der Stärke zwei, um drei sich durchdringende runde Topflappen auf einmal aus der Mitte heraus zu stricken - und gab auf. Irgendwann wusste ich nicht mehr, welche der zwölf Nadeln jetzt dran sein sollte. Alle drei Ebenen auf einmal zu stricken war zu unübersichtilich.

Am nächsten Tag startete ich gleich den nächsten Versuch (wieder nach Feierabend). Diesmal strickte ich erst einen runden Topflappen, bis an Durchmesser ca. fünf Zentimeter erreicht waren. Dann begann ich einen neuen Faden schneckenförmig durch diese erste gestrickte Ebene zu ziehen, quasi den Verlauf des Garns der zweiten Ebene einzufädeln. Es wird, beginnend in der Mitte, zwischen der ersten und zweiten Runde der ersten Ebene der Faden von vorne nach hinten durchgefädelt, dann wird der Faden an der gegenüberliegenden Stelle wieder zwischen erster und zweiter Runde der ersten Ebene von hinten nach vorne zurückgefädelt. Man fährt fort zwischen zweiter und dritter Runde von vorne nach hinten, etc..., bis zur letzen gestrickten Runde. Und dieser durchgefädelte Faden wird dann von der Mitte zum Rand hin mit einem zweiten Stricknadelspiel abgestrickt, sodass die entstehende zweite Ebene die erste durchdringt.

Das ganze muss dann genauso für die dritte Ebene gemacht werden, die die erste und zweite Ebene durchdringt.. Hört sich kompliziert an und ist es auch. Von dem Zwischenergebnis liegt ein Foto vor. Sollte das Heptaeder noch nicht die gewünschte Größe haben, können die Ebenen weiter vergrößert werden, wobei die Technik des Überstrickens von der Kreuzhaube zum Einsatz kommt. Am Ende werden jeweils drei Nadeln zu einer Runde zusammengefasst, sodass sich vier Runden ergeben, die als Kappen abgestrickt werden... et voila.

unfertiges Heptaeder

Heptaeder

Kleinsche Flasche

Das war schon alles ganz schön viel Aufwand, um bloß mal zwei einseitige Flächen als Strickexemplar zu erhalten! Aber es ist zum Glück noch mehr drin. Zwischenzeitlich strickte ich mal einen Pullover, an dem ich die neuen Techniken ganz profan und unmathematisch anwandte. Im Moment habe ich auch keine Angst, dass andere Frauen das Gleiche anziehen wie ich. Zwar hatte ich auch früher nie das Problem, aber sollte es Frauen geben, die öfter mit sowas konfrontiert sind, dann kann ich nur sagen: Stricken lernen, Ideen haben und diese realisieren. Das Problem sollte im Nichts verschwinden.

Nun gibt es aber noch eine dritte sehr berühmte einseitige Fläche: die Kleinsche Flasche. Klar, dass die auch noch dran kommen musste. Sie wird aus zwei Möbiusbändern gebildet, die sich in der Mitte durchdringen und an ihren Außenrändern verbunden sind. Also begann ich im Jahr 2013 mit dem ersten Versuch. Aus der Mitte heraus wollte ich vier Bandhälften stricken und dabei eigentlich nach jeder Runde von der jetzigen Bandhälfte zur übernächsten Hälfte übergehen. Dabei machte ich aber im ersten Versuch den Fehler, nur zur nächsten Bandhälfte überzugehen, und heraus kam - eine zweiseitige Fläche. Das kann man einerseits als Missglück bezeichnen, andererseits war es für mich eine Überraschung: Mit der selben Technik, mit der ein Möbiusband gestrickt wird, lässt sich also auch eine zweiseitige Fläche stricken, man nimmt nur statt zwei Bandhälften eben vier. Dieses zweiseitige Band ist auf der Netzseite zweiseitig Stricken zu sehen.

Ok, ich meditierte noch ein paar Monate über den Fehler nach, den ich gemacht hatte, und im Jahr 2014 strickte ich die Kleinsche Flasche. Im Wesentlichen wird sie gestrickt, indem die Innen-nach-Außen-Technik und die Außen-nach-Innen-Technik für Möbiusbänder miteinander kombiniert werden. Man strickt ein doppelt so breites Möbiusband von innen nach außen. Dabei bildet die äußere Hälfte des Bandes das zweite Möbiusband, das quasi von außen nach innen gestrickt wurde. Dann fädelt man die Hälfte der Maschen des entstandenen Randes durch die Mitte des Bandes und dreht dabei die Richtung auf der Nadel um. Am Schluss kettet man die Maschen auf den beiden Nadeln abwechselnd mit einer Häkelnadel ab.

unfertige Kleinsche Flasche

Kleinsche Flasche